"FLORIAN JENETT"

Angenommen, man bummelt durch Frankfurts Innenstadt, denkt an dies und das – und sieht im Augenwinkel plötzlich dieses Ding auf dem Bürgersteig liegen. Etwas, dessen Form man sofort identifiziert, obwohl man es nur aus dem Fernsehen kennt oder aus den Auslagen einschlägiger Geschäfte. Da liegt also diese Pistole herum, einfach so. Sicher, man könnte stehen bleiben. Andererseits: Wer stehen bleibt, stellt eine Verbindung her zwischen sich und dem Ding. Eine Art Handlungszwang würde sich einstellen, bloss welcher? Sollte man die Waffe aufheben? Besser nicht. Am Ende verwischt man Fingerabdrücke oder wird in ein Verbrechen hinein gezogen. Das will ja niemand. In jedem Fall müsste man wohl zur Polizei mit oder ohne die Waffe, eine Aussage machen und so weiter, nee, nee. Noch bevor diese geistige Kettenreaktion in Gang gesetzt wird, kennt der Körper einen tauglichen Reflex: weitergehen, einfach ignorieren.

Hätte man einen zweiten Blick riskiert, hätte sich die Sache als völlig harmlos entpuppt. Florian Jenett und Valentin Beinroth haben Pistolen aus schwarz gefärbtem Eis gegossen und sie in Frankfurts Innenstadt auf dem Boden verteilt. Die Reaktionen waren mehr als zurückhaltend, was weniger für Gleichgültigkeit, als für eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit Waffen spricht. Schliesslich hat ein Einsatzkommando der Polizei die Aktion vorzeitig abgebrochen. Vermutlich war es das erste Mal, dass eine Polizeitruppe wegen Wassereis ausgerückt ist.

Die Verbindung harmloser Elemente mit solchen, die im weitesten Sinne mit Gefahren assoziiert werden, ist eine Konstante in den Arbeiten von Florian Jenett. Häufig handelt es sich dabei um Computergrafiken, in denen zwei unterschiedliche Themenbereiche zusammengeführt etwas völlig Unerwartetes, Neues ergeben. Zum Beispiel Tiere und Fortbewegungsmittel. Für die Serie ‘Renntiere’ hat Florian Jenett, der an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung bei Heiner Blum studiert, Tieren das Design von Rennwagen verpasst: ein grün gestreifter Tapir trägt die Aufschrift ‘Team-PI’, ein beige-weisses Känguruh mit brombeerfarbenem Streifen ist als Nummer 33 gekennzeichnet. Eine andere Serie zeigt zerborstene Flugzeuge, die die Gestalt toter Fische haben.

Die Überlappung einander völlig entgegengesetzter Themenkomplexe führt zu Absonderlichkeiten, die Florian Jenett so selbstverständlich erscheinen lässt, wie die absurde Vernetzung von Bildern im Traum. Das Assoziationsspektrum ist diffus. An fantasievolle Kinderbuchillustrationen denkt man genauso wie an die Instrumentalisierung wehrloser Tiere zu unlauteren Zwecken. Das Grauen ist hübsch verpackt. Allerdings geht es Jenett, der 1975 in Würzburg geboren wurde, nicht um den Tierschutz oder vergleichbar moralische Fragen. Auch die Eispistolenaktion war nicht politisch motiviert, sondern von einer Art kindlicher Neugier: Jenett will ausprobieren und sehen, was passiert. Und er ist fasziniert von der Welt des Designs, von seinen spielerischen Möglichkeiten, durch Kombination und Oberflächengestaltung neue, virtuelle Welten zu erschaffen.

Seine Anregungen findet er überall: in der Mode, im Sport oder in medizinischen Fachbüchern. Auf das Wesentliche reduzierte Skizzen zur Ersten Hilfe etwa oder vergrösserte Darstellungen von Viren hat Florian Jenett am Computer zu seltsamen Bildern verwoben, in denen die Grössenverhältnisse auf den Kopf gestellt sind. Eine Figur, die ihre Herzmassage auf dem zum Reflextest benötigten Stäbchen ausübt, lässt an ein groteskes Kräftemessen denken. Jemand der die stabile Seitenlage auf einem geschlängelten Ebola-Virus praktiziert, scheint Entspannung auf einem elegant geschlungenen Designermöbel zu empfinden. Die Namen verschiedener Viren wiederum inspirierten Jenett, dazugehörige Gesichter zu zeichnen, die naturgemäss alle ein wenig deformiert wirken. ‘Hanta’ zum Beispiel sieht aus wie ein zum Seebär mutierter Abraham Lincoln und Vult ist ein tumber Kerl mit vorstehender Unterlippe, flachem Hinterkopf und einer allgemein kriminell anmutenden Physiognomie. Einem wie ‘Vult’ traut man zu, dass er mit Pistole durch die Frankfurter Innenstadt läuft.

Sandra Danicke, 2003

Katalogbeitrag zur Ausstellung "Florian Jenett und Arnika Müll" der Jürgen Ponto Stiftung, 2003