Doppelpass im Rotlichtviertel

Über Florian Jenetts Ausstellung „Lookahead“, 10. – 21. Mai 2010, in der Weißfrauenkirche, Frankfurt am Main

English version

Mit der gegenläufigen Dynamik von „Projektionen des Zukünftigen und deren Auswirkungen auf Entscheidungen im Hier und Jetzt“ beschäftigt sich Florian Jenetts Rauminstallation „Lookahead“ in der Frankfurter Weißfrauenkirche.

Anachronistisch steht ein riesiger geodätischer Dom inmitten des Kirchenschiffs. Rein formal befindet sich die futuristische runde weiße Kuppel mit ihrem Netz aus Vielecken im Dialog sowohl mit den architektonischen Eigenschaften der großen Saalkirche, dem Linienmuster der minimalistischen Natursteinfliesen auf dem Boden als auch mit den runden farbigen Kirchenfenstern hoch oben im Raum. Besonders hervorgehoben wird die Verbindung von Objekt und Raum in den Momenten, wenn das Sonnenlicht durch die Glasfenster schimmert und seine Reflexionen die weiße Außenhaut der Domkuppel in ein flüchtiges Spiel bunter Projektionen tauchen.

Um ins Innere der Kuppel  zu gelangen, tritt der Besucher aus dem Durchgang durch eine Druckschleuse, hinein in den mit Luft gefüllten Ballon. Außen weiß und innen bunt, überrascht die Innenhaut der Domkuppel in schillernder Perspektivenvielfalt mit Details großformatiger, malerisch verfremdeter Werbemotive. Vollkommen wird hier auf das Trugbild des einen vorherrschenden Blickpunktes verzichtet.
Das intime Refugium des Doms im Inneren des Schutzraums der Kirche verbindet Begriffe von Freiheit und Verschluss – der Besucher befindet sich in einem hermetisch abgeriegelten Innenraum, gleichzeitig an einem imaginären Zufluchtsort und immer inmitten der Alltagsrealität dieses besonderen urbanen Brennpunktes im Frankfurter Rotlichtmilieu.

Angenommen, die Inkarnation – also die Fleischwerdung des Menschen – macht seine Räumlichkeit aus, dann wären die Folgen beträchtlich. Gaston Bachelard hat aus dieser Grundvoraussetzung menschlichen Lebens von der Psychoanalyse her seine Theorie der „Topo-Analyse“ abgeleitet, „also das systematische psychologische Studium der Örtlichkeiten unseres inneren Lebens“. (1) Dahinter steht der Gedanke, dass es eine Analogie zwischen drinnen und draußen gibt und beides stets aufeinander bezogen bleibt. Das Unbewusste lebt nicht unbestimmt irgendwo, sondern in inneren Räumen, die außen ihr Ebenbild finden. Das Gebäude verhüllt die Vision und schützt den Träumer. Spätestens seit Etienne-Louis Boulées (1728-1799) utopischen Ausführungen von Kuppelbauten, besonders der „Kenotaph für Newton“, sind Bauwerke die anschauliche Integrationskraft für Gedanken und Erinnerungen, Sehnsüchte und Träumereien.

Florian Jenetts künstlich geschaffener Raum im Raum hat einen Durchmesser von circa 12,5 Metern und besteht aus der Auflösung eines Ikosaeders in geometrische Vielecke die, bunten Schmetterlingsflügeln gleich, aneinandergelegt sind. Vor allem durch die ökonomische Wiederverwertung perfekt zugeschnittener Formen aus ganz alltäglichen Werbeplanen, verbunden mit dem Gedanken an wirtschaftliche Grundsätze und ein Interesse am durchgängigen systemischen Wirken natürlicher Prinzipien knüpft Florian Jenett an Ideen des ikonischen amerikanischen Fortschrittsdenkers und Gestalters Richard Buckminster Fuller (1895-1983) an. Fuller prägte den Begriff des geodätischen Doms in den 40er Jahren entscheidend mit.

Buckminster Fullers Einfluss in der zeitgenössischen Kunst ist 27 Jahre nach seinem Tod stärker denn je zu erkennen: Wenn Olafur Eliasson, wie in „Blind Pavillon“ (2), mittels raumfüllenden Stahl- und Glasinstallationen menschliche Wahrnehmung erfahrbar macht oder wenn Skulpturen wie „Velotaxi“ (2007) von Pedro Reyes ebenso wie Josiah McElhenys abstrakte Plastiken auf eine Auseinandersetzung mit universelen geometrischen Formen zurückgehen, so ist dies Buckminster Fuller geschuldet. Sogar Andrea Zittels kompakte futuristische „Living Units“, Performance-Installationen als überspitzte Sinnbilder für effizientes Wohnen unter engsten Bedingungen, sind durch und durch von Buckminster Fullers spleenigen Wohnentwürfen geprägt. (3)
Mit seinem „Lookahead“-Dom also befindet Florian Jenett sich künstlerisch in illustrer Gesellschaft. Wie geodätische Kuppeln allgemein zeichnet sich der „Lookahead“-Dom Jenetts durch große Stabilität und ein günstiges Verhältnis von Material zu Volumen aus. Als Lebensraum bietet der Dom Vorteile durch natürliche Schallverteilung und Luftzirkulation. Zudem präsentieren geodätische Kuppeln beste akustische Eigenschaften.
„Die Kuppel von „Lookahead“ ist ein Nachbau einer von der Bundeswehr während des Kalten Krieges auf der Wasserkuppe (Rhön) betriebenen Radaranlage. Sie setzt sich aus einem quasi zufälligen Facettenmuster zusammen, (…) Das Facettenmuster enthält zwei sehr gegensätzliche Elemente: Zwischen regelmäßig platzierten Pentagrammen scheinen sich abstrakte Schmetterlinge frei zu bewegen. Aus rein rationellen Gründen entstand eine Form, deren Interpretationsmöglichkeiten die Kuppel zu einer industriellen Skulptur machen.“ Florian Jenett (4)

In der künstlerischen Tradition utopischer Lebensräume ist Florian Jenetts „Lookahead“ eine zeitgemäße Neufassung und knüpft direkt an Arbeiten wie Bucky Fullers „Dome Over Manhattan“, den „Clean Air Pod“ von der Gruppe Ant Farm und „Oase Nr.7“ von Haus-Rucker-Co an. (5) Ähnlich der „Air Port City“ von Thomas Saraceno stellt Florian Jenett mit seinem „Lookahead“-Dom politische, soziale, kulturelle und militärische Grenzen infrage.

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In einer Welt, wo das Morgen unsicher geworden ist, in der düstere Nachrichten von Klimawandel, Wirtschaftskrisen und geopolitischen Zwangslagen nicht nur bei erklärten Pessimisten finstere Vorahnungen hervorrufen, gewinnen Zukunftsvisionen erneut an Relevanz. Indem Gerald Hintze, Kurator des Ausstellungsprojekts, die besondere Bedeutung von Florian Jenetts Arbeit an einem Ort betont, der Menschen ohne Wohnung einen geschützten Raum bietet, erlaubt er dem Künstler mit seiner Installation „Lookahead“ ein Zeichen zu setzen. Bildhaft verweist Florian Jenett nicht nur auf kulturelle und gesellschaftliche Problemstellungen, er bietet dem Betrachter auch den Lösungsansatz gleich mit an. In diesem Sinne dürfen wir gespannt in die Zukunft schauen und uns auf weitere Arbeiten von Florian Jenett freuen. We’re looking ahead mesmerized.

Zylvia Auerbach
Frankfurt am Main, 2010

1. Gaston Bachelard „Poetik des Raumes“, Fischer, Frankfurt am Main, 2001, S. 35 f
2. Daniel Birnbaum „Außen“, Olafur Eliasson, Innen-Stadt-Außen, Verlag der Buchhandlung Walther König Köln, 2010. S. 25 f
3. Lisa Delgado „Symposium Spotlights Bucky’s Artistic Heirs“, Oculus, New York, 2008
4. aus dem Pressetext zur Ausstellung, Mai 2010
5. Friedrich von Borries „Klimakapseln“, Edition Suhrkamp, Frankfurt/Berlin, 2010