„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.“ (Karl Marx, Thesen über Feuerbach)
Tilt! oder As time goes by
Die Kunst, die Wirklichkeit ins Bild zu setzen
Was hat eine aufgemotzte Familienkutsche mit der Protestkultur gemein? Mit all den merkwürdigen „Renntieren“ im zeichnerischen Werk Florian Jenetts, der gewaltigen aufblasbaren Kuppel inmitten eines Kirchenraums? Oder gar mit der absonderlichen Containermulde, mit der der Künstler vor drei Jahren mit ein paar Kumpels am Mainufer spazieren fuhr. Und jener Uhr, die pausenlos so melancholisch tickt, dass man dabei, je länger, desto mehr die Zeit vergisst? Zunächst einmal ganz offensichtlich: nichts.
Indes, wir würden einen gänzlich anderen Einstieg wählen, wäre Jenetts Werk nicht in sich schlüssig und konzeptuell für einen noch recht jungen Künstler nicht verblüffend konsequent gedacht. Dabei dreht sich alles in seinem Werk, gleich ob in seinen frühen, noch ganz der Zeichnung verhafteten Arbeiten oder in den zunehmend aufwendiger und komplexer sich ausnehmenden Installationen, zunächst einmal um ganz banale Dinge. Wahrnehmungen des Alltags gleichsam, dessen buchstäblich auf der Straße liegenden Erscheinungen und Prozesse ihm das Material vorstellen für seine immer wieder überraschende und, auf eine sehr eigene Art, auch immer wieder durchaus komisch zu nennende Kunst.
So wie der ausgeleierte Toyota, den Jenett noch während seines Studiums mit ein paar Pappspoilern als zwar billige, doch formvollendete Kulisse vorortjugendlicher Machoträume vorführte („WÜ-ZP-200“, 2003); oder die Protestplakate für und gegen Gott und die Welt, deren Fotos er im Netz einsammelt („Adding Up Our Differences“, seit 2006) nur, um sie, ganz für sich und isoliert von jeglichem Kontext, als Bild gewordenen Ausdruck abstrakter Wünsche, Ängste, Utopien vorzuführen.
Das Entscheidende in Jenetts Werk sind also offenkundig weniger die Dinge, sondern was er damit macht. Sein Versuch mithin, die Welt nicht im Marxschen Sinne zu verändern, sondern sie gerade umgekehrt allererst noch einmal, und noch einmal und immer wieder neu zu interpretieren. Und sich und dem Betrachter auch ein Bild davon zu machen. Dann sieht sie ohnehin schon einmal anders aus. Insofern ist denn auch der Nenner, auf den sich alle seinen bisherigen Arbeiten bringen lassen, zunächst ein rein formaler.
Dabei bewegt sich Jenetts künstlerisches Vorgehen, wenn man so will, exakt am Teilungsstrich zwischen medialen und gesellschaftlichen, wissenschaftlichen oder technischen Systemen hier – Codierungen etwa, Definitionen und Funktionalitäten – und ihrer Sabotage im Spannungsfeld von Konstruktion und Dekonstruktion, De- und Rekontextualisierung dort. Das gilt im Grunde schon seit Studienzeiten. Als Konstante seines Schaffens aber ist das bislang nirgends überzeugender und mit stupenderer Klarheit formuliert als in seinen jüngeren Arbeiten, sei es in „1t ct“, in „Phishing At The River Of News“ (beide aus dem vergangenen Jahr) oder gar in „One Perfect Cube“ (2010).
Wenn Jenett etwa für seine Dauerinstallation „Phishing…“ live und ungefiltert die für jeden Netz-Surfer eher nervigen Werbebanner von gut und gerne 9000 Nachrichtenportalen aus dem Internet ausliest und all die kunterbunten Reklamebildchen über ein, zwei Dutzend Monitore mäandern lässt, dann führt er mit des Mediums eigenen Mitteln nicht nur die sogenannte Informationsgesellschaft vor mitsamt all dem wohlfeilen Gerede von Wissen, Verfügbarkeit und Transparenz. Angenehm unaufdringlich verweist die Installation auch darauf, dass es immer wenigstens auch um Interessen geht. Oder dass hehre Ziele, kommerzielle und gesellschaftliche Interessen oder gar klandestine kriminelle Machenschaften aus abstrakt bereinigter Perspektive sich so arg im Grunde gar nicht unterscheiden – oder doch wenigstens nicht unterscheiden lassen.
Jenetts Antwort auf das Dilemma und zugleich an das System ist derweil frappierend schlicht und subversiv in einem geradezu anarchischen Sinne: Er löst die Inhalte und Widersprüche einfach auf. In nichts als reine, in ornamentaler Schönheit von Bildschirm über Bildschirm über Bildschirm wandernde Oberflächen. Einen sanft schmeichelnden Werbeflow, hinter dem nichts ist als: Leere. Im negativen gerade wie in einem angesichts des dauernden medialen Overkills auch positiv auslegbaren, beinahe meditativ zu nennenden Sinne.
Dagegen erscheint „One Perfect Cube“ zunächst einmal als reine Form, als eine animierte und in permanenter Wandlung sich befindende Zeichnung, deren Autor nicht recht weiß, was sie wohl dereinst einmal werden will. Oder womöglich auch schon einmal war. Woher soll man das wissen? Neun, von den Zeigern dreier Uhren vorgestellte Linien machen diese Grafik aus, von denen sich je drei im gleichen Rhythmus, ticktack, gleichsam mit der Zeit über das Blatt bewegen, hier zu klaren, minimalistischen Formen sich zu finden scheinen, dort sich verdichten zu kompakten Körpern nur, um gleich wieder, ticktack, auseinanderzufallen in mal chaotisch, mal federleicht und höchst poetisch sich ausnehmende Partikel. Jede Sekunde ein neues Bild. Und ein jedes dieser ganz und gar abstrakten Bilder auch eine Art memento mori.
Die deutlich vernehmbare Bewegung der Zeiger, die unaufhörliche Veränderung der Zeichnung lässt daran keinen Zweifel. Wie welke Tulpen oder ein zerbrochenes Glas in der barocken Malerei. Nur dass in Jenetts ursprünglich und formal so strengem zeichnerischen Garten in jedem noch so kurzen Augenblick eine neue, überraschende, mitunter wundersame Blüte sich zeigt. Um sogleich wieder zu verschwinden. Nur einmal, alle zwölf Stunden, um wie die Uhr genau zu sein, stellt das Ausgangsbild, das eigentliche Motiv sich dar als Würfel und mithin als stabiler geometrischer Körper, der als solcher den Metamorphosen der Zeit wie der Welt sich beinahe naturgemäß, ist man geneigt zu sagen, doch eigentlich erfolgreich widersetzt. Und ist, ticktack, schon wieder weg.
Nicht zwölf Stunden freilich, nicht 24 oder 48 reichten aus, das Bild als solches zu erfassen in seinem permanenten Sichfinden und Verlieren, Verdichten und Auflösen; dem Werden und Vergehen, das die Zeit nicht anhält, aber doch in jedem Augenblick ein wenig anders, neu und durchaus schön auch vorzuführen ihm gleichsam grafisch eingeschrieben ist, und wie die Zeichnung als eine reine Form und als sich selbst genügendes System hier täglich ihre Runden dreht. Und sich selbst wie die lineare Zeit dabei ganz mir nichts, dir nichts, aus den Angeln hebt.
Insofern, mag man schließen, hatte der gute alte Marx mit seinen Thesen am Ende sogar Recht, wenn er, erneut gegen Feuerbach, revolutionär in etwa so buchstabiert: „Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als künstlerische Praxis gefasst und künstlerisch verstanden werden.“ Okay, das ist geschummelt, so hat das Marx natürlich nie gesagt, an Kunst hat er hier nicht einmal gedacht. Die Kunst Florian Jenetts aber scheint uns damit gar nicht einmal schlecht getroffen.
Christoph Schütte